Weihnachten 2014 - Deutschland durch die rosarote Brille

08 Dezember 2014
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Und wenn sie nicht gestorben sind, lügen sie noch heute

Eigentlich habe ich gedacht, dass die Vorweihnachtsglitter-Flittershow das Zuckrigste sein wird, was ich Ende dieses Jahres erlebe. Doch dann: „BÄM!“, hat mich eine Fernsehserie in ihren Bann geschlagen, die da heißt: „Schicksale – und plötzlich ist alles anders“. Erst einmal ist mir aber beim Zuschauen anders geworden. Und ich habe gemerkt: Nein, den Leuten reicht es noch nicht, was sie an Mediendreck fressen müssen. Sie holen sich dauernd Nachschlag am Buffet, welches das ganze Jahr von der Zeitarbeitskraft Verarschung für uns aufgewärmt wird. „Schicksale“ soll zeigen, wie Deutsche leben, und zwar im Foto-Love-Story-Format.

Das vom Zuschauer geforderte Maß an Intelligenz lässt sich sehr gut mit folgendem Beispiel beschreiben: Ein Bub aus gutem Hause kommt erst vom rechten Weg ab, dann wieder drauf (wobei er ein Straßenmädchen im Schlepptau hat) und am Schluss schenkt er dem einst so verhassten Vater ein Familienfoto, für das er den Rahmen selbst gemacht hat. Und die Mutter sagt: „Toll, da sind wir ja alle drauf.“ Die ganze Familie. Auf einem Familienfoto. Da legst dich nieder.

In einer anderen Folge geht es um eine kaufsüchtige Dame, die das ganze Geld zum Fenster hinauswirft, bis zum Schluss kein Cent fürs neue Auto übrig ist. Au Backe! Das darf freilich der Mann nicht erfahren und so lässt sie sich vom Gerichtsvollzieher erpressen, der Nacktfotos(?!) von ihr machen will. Dafür verschiebt er die Zahlungsfrist. Aber es kommt noch besser! Die Dame wird errettet von einem Kaufhausdetektiv! Aber nicht, während sie klaut, nein, das wäre viel zu einfach. Sondern, der Detektiv (der freilich unglaublich süß und gutaussehend ist und ein großes, goldenes Herz hat) verliebt sich via Monitor in Frau Kaufrausch, während sie alles in den Wagen packt, was der Laden hergibt. Und er spricht zu seinem Kollegen, dass man ihr helfen müsse, woraufhin er zur Dame spricht, dass sie sich helfen lasse müsse, wegen der Kaufsucht. Entschuldigung, ist Ihnen das noch nie passiert? Dass sich irgendein Detektiv um Ihr Wohlergehen sorgt, während er den ganzen Tag mit der Visage vor einem Bildschirm hängt und unzähligen Leuten beim Wagenbeladen zuschaut? Am Schluss rettet der Detektiv die Dame, sie verlässt für ihn ihren Mann („Wir haben uns im Guten getrennt.“) und ihr Leben wird echt Bombe, auch wegen einem neuen, tollen Job.

Da fällt einem nichts mehr ein, oder?

Das Frauenbild ist anfangs durchgängig ein devotes. Doch bald schon müssen sie um den Job, das Kind oder die Vereinbarkeit von Job und Kind kämpfen. Dann shoppen sie schnell einen Superhelden-Body, schlagen Schwiegermonster und den Macho-Dämon, der im Hirn von ihrem Mann die Führung übernommen hat, in die Flucht und berichten hernach den Zuschauern, wie super-duper ihr Leben ist. Die Botschaft: Jeder kann das schaffen, wenn er sich nur an die Regeln der modernen Gesellschaft hält, wenn er auf sich selbst schaut. Alle anderen sind Statisten. Ach, apropos Shoppen: In der Folge über Frau Konsum kriegt sie wegen der großen Liebe alles in den Griff. Denn Kinder kann sie nicht kriegen – deswegen kauft sie ja ein, logisch oder? Denn kinderlose Frauen sind gestört.

Die Männer sind eher wie Welpen, verspielt und knuddelig, man nimmt sie nicht ganz ernst, und wenn sie denn mal beißen oder wohin kacken, dann werden sie gezüchtigt und alles ist gut. Sicher, ein paar Bösewichte gibt es auch, zum Beispiel den Gerichtsvollzieher. Aber der kommt ins Gefängnis. Klappe zu, Affe tot.
Hier hat man wieder einmal eine Schablone entworfen, in die wir passen oder uns zwängen sollen, die mehr als haarsträubend ist.

Die Aussage ist aber einfach: Deutschland geht es gut. Unsere Probleme sind verzogene Gören, die mal einen durchziehen (das Schlimmste daran ist, dass sie so blöd sind, sich erwischen zu lassen), gute Jobangebote, derentwegen der Mann sich ums Kind kümmern muss, der Umstand, dass wir so viel kaufen können, bis der Gerichtsvollzieher kommt, und die verbotene Liebe. Aber am Ende erleben die Figuren immer ein Happy End, welches darin besteht, dass Prinzen und Prinzessinnen die verlorenen Seelen auf ihren Sparbuch-Schimmel oder ihre Eigenheim-Equipage ziehen und gemeinsam in den Sonnenuntergang des Vorstadtlebens reiten.

Sat1 sollte eine Gesundheitswarnung vor jeder Folge senden müssen: Achtung! Der Konsum des folgenden Märchenbeitrags führt zu Karies und Diabetes. Gegen diesen Bonbon-Blödsinn, der am Vorabend für die ganze Familie ausgestrahlt wird, wirken sogar die modernen Nachrichten, welche von wirklichen Schreckensbilder bereinigt sind, wie ein Splatter.

Aber die Leute schauen sich so was an. Sturm der Liebe, etc. - das alles wird gern genommen, den ganzen Tag, wenn es pressiert, um sich einlullen zu lassen, um die Realität auszusperren. Sicher, das ist erst einmal nicht verwerflich. Jeder, der Fiktion liest, hört oder sieht, sperrt die Realität aus. Allerdings im Bewusstsein, dass es sich um Fiktion handelt. Bei genannten Sendungen verhält es sich wie bei Werbeanzeigen in einer Zeitung, die nicht klar als solche gekennzeichnet sind und also auch mit redaktionellen Beiträgen verwechselt werden können. Und das alles ist dem kapitalistischen Zeitgeist geschuldet.

Und hier entsteht die Gefahr der Verwirrung. Wenn Menschen eine solche Welt für normal halten, während sie aber tagein, tagaus damit beschäftigt sind, Geld für die Miete und Nahrung (oder Fast-Food) zu verdienen, dann bekommen sie das Einsame-Opfer-Gefühl. „Das darf doch nicht wahr sein! Warum passiert das immer nur mir?!“ Sie verfallen der totalen Ich-Bezogenheit, ohne Blick für die reellen Probleme um sie herum oder andere Menschen.

Alles soll bitte auch für mich rosa-rot-supi-dupi laufen, so supi-dupi, dass es mir schon einen Seufzer der Verzweiflung entreißt, wenn der Partner die Tasse nicht in die Spülmaschine stellt oder der probiotische Darmjoghurt vergriffen ist. Ich würde übrigens gerne mal miterleben, was passiert, wenn es zwei oder drei Monate keinen Darmjoghurt gibt. Zerreißt es dann die gutbürgerliche Mittelschicht?

Jedenfalls ist doch klar, dass man sich nach „Schicksale“ nicht mehr mit den Schicksalen von Flüchtlingen, Obdachlosen, Opfern von Polizeiwillkür oder auch nur dem eigenen Partner beschäftigen kann. Höchstens noch mit Zalando (ja, ich gehe davon aus, dass die Zielgruppe der Schicksals-Sendung Frauen sind) oder der neuesten „Symphonie“, die Edeka für die Kunden durch den Äther flötet. Letztere hört sich übrigens an als hätte ein altes LG-Handy einen epileptischen Anfall. Trotzdem wackeln die Kunden begeistert mit den Köpfen im … na ja, Takt ist das falsche Wort. Und sie freuen sich, obwohl dieses Gepiepe einem jeden auf den Wecker geht. Sonst schauen sie sofort strafend einen Mitmenschen an, der in der Trambahn seine Tastentöne auf laut gestellt hat. Wahrscheinlich warten sie drauf, dass Helene Fischer oder Xavier Naidoo aus einer Kekspackung springt. So schön macht es uns das Kaufhaus, während daheim der/die Olle nicht einmal „Alle meine Entchen“ pfeifen kann. - „Also ehrlich Steffen-Leon, möchtest du nicht eine Lehre bei Edeka machen? Da machst du doch gleich noch eine Ausbildung zum Musiker!“

Einen ähnlichen Effekt wie die Zucker-Serien haben wahrscheinlich die unzähligen Kriegs- und DDR-Rückblicke, die derzeit in den Öffentlich-Rechtlichen rauf- und runterlaufen. Wo wir Deutschen herkommen, wie wir sein sollen, was unsere Vorfahren erlebten: Alles im Micky-Maus-Stil erklärt. Fehlt bloß noch, dass man sich kleine Deutsche wie Urzeittierchen selber im Wasserglas züchten kann.

Diese „Beiträge“ sind zum Großteil leicht bekömmlich und haben außerdem einen schön heroischen Touch. Wir sehen den starken Bismarck, die fleißigen Trümmerfrauen, die mutigen Deutschen im Widerstand gegen Hitler und wie lustig es in der DDR unter der verkalkten Hornbrille Honecker zuging. Alles nicht so schlimm, und wie praktisch, dass man uns endlich erklärt wie wir sind: toll. Allein wegen der Fußball-WM oder der ganzen Wiedervereinigung, als wir damals Russland unsere Brüder wieder entrissen haben (damit wir jetzt in der U-Bahn oder privat über ihren ulkigen Dialekt lachen und blöde alte Witze über sie reißen können).

Der Deutsche bekommt wieder ein Bewusstsein. Und zwar geschenkt. Ein seit Jahren schon von den Alten und rechtslastigen Lagern herbeigepredigtes, herbeigesehntes Bewusstsein. Überreicht wird es vom Staat und von der Wirtschaft, den zwei Unzertrennlichen. Denn anders als bei Staat und Kirche wechseln die Amts- und Würdenträger von einem Lager zum anderen. Schwupps, erst Kanzler, dann hoppla, plötzlich bei Gasprom (Schröder). Dieses Bewusstsein gilt freilich nur für uns. Nicht für diese Migranten oder so ein Zeug, die uns die Butter vom Brot stehlen, während sie alles in die Luft sprengen wollen. Und man wird doch wohl, bitte schön, einen Kranz für gefallene Deutsche niederlegen dürfen!

Betrachtet man diese Bewusstseinspropaganda, diese (noch) sanfte Verschaukelei auf allen Ebenen, wundert man sich auch nicht mehr, warum immer noch viel zu viele „Bürger“ der Staatsmutti Merkel glauben, wenn sie schalmeit: „Deutschland geht es gut.“ Sie glauben, weil sie wollen, weil sie endlich mal wieder ein sorgloses Leben führen möchten. Sie erkennen nicht, dass dieses sorglose Leben erstens eine Lüge ist, da man Sorgen hat, so lang man lebt. Und zweitens, dass man diese Sorgen aber reduzieren kann, wenn man sich nicht alles vorschreiben lässt (Essen, Trinken, „Extra“ kauen, niemals Rauchen oder übern Teller schauen).

Man kann nur hoffen, dass kein großer Plan hinter all dem steckt, dass wir nicht auf einen Krieg vorbereitet werden sollen; auf das Überleben des Stärkeren, der zuerst den Darmjoghurt ergattert. Aber falls doch, dass sich die Leute nicht vollends von der Kuscheltiger- und dem Kriegerbewusstsein einlullen lassen, dass sie die elektronische Märchentante abschalten und sich bewusst der Fiktion zuwenden, um bewusst die Realität zu leben und zu ändern.

In diesem Sinne: FROHE WEIHNACHTEN und GUTEN RUTSCH INS NEUE JAHR

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Schlagwort :
Andrea Limmer

Freie Journalistin

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